Wo bitte gehts zu den Bisons? Bericht von der Partnerschafts-Bildungsaktivität „Belarusian Youth Work“

Bisons und Mammutbäume? Das habe ich bei einer Reise nach Warschau und Hajnowka in Polen gesehen. Anlass war eine Veranstaltung der polnischen Nationalagentur für Erasmus+. Die Partnerschaftbildungsaktivität (PBA) hieß „Belarusian Youth Work“. Sie brachte mich in Kontakt mit aus Belarus nach Polen geflüchteten Jugend-Organisationen. Auf diese Weise gibt die EU Hilfestellung bei dem Finden von Partnern für Erasmus+-Projekte. Gemeinsam brainstormten wir Projektideen und die Leute von der EU gaben Tipps für eine Antragstellung. Und habe Bisons gesehen!

Warum Belarus?
Warum interessiere ich mich für Belarus? 2020 fand ein Aufstand in Belarus statt. Der Präsident hatte die Wahlen gefälscht. Leider haben die Schergen des Präsidenten den gewaltfreien Aufstand nach neun Monaten nieder geschlagen. Der Mut und die Gewaltfreiheit des Aufstandes haben mich sehr beeindruckt. Deshalb interessiere ich mich für Kooperationen mit Menschen aus Belarus. Die Jugend-Rada, ein Zusammenschluss von aus Belarus nach dem Aufstand vertriebenen Organisationen, beklagt, dass es für sie sehr schwer sei, Kooperationspartner*innen zu finden. Der Ruf der Diktatur, die Putins Krieg in der Ukraine unterstützt, färbe leider auch auf die Opposition ab (mehr Infos dazu gibts hier). Auch um das zu ändern, organisierte Salto Eastern Europa&Caucasus diese Partnerschaftsbildungsaktivität.

Salto-Plattform
Die Veranstaltung habe ich auf der Plattform https://www.salto-youth.net/ gefunden. Salto ist ein Kompentenzzentrum der EU, das Kooperationen in Erasmus+ einfacher machen soll. Dort gibt es unter anderem eine Datenbank für Fortbildungen, auf die man sich bewerben kann. Dank der Unterstützung durch die Nationalagenturen der EU kostet die Teilnahme nichts oder fast nichts. Ich habe die Ankündigung für die Partnerschaftbildungsaktivität dort gesehen, mich angemeldet, den Bewerbungsbogen ausgefüllt und bin genommen worden. Also ab nach Polen!

Auf ins Aufstandsmuseum
Ich bin morgens sehr früh aufgestanden. Und mit dem Zug nach Warschau gefahren. Ich habe die Zeit genutzt, um mir das Museum für den Warschauer Aufstand anzusehen. Gegen die deutsche Herrschaft erhoben sich die Bürger*innen Warschaus am 1. August 1944. Es dauerte 63 Tage bis zum 2. Oktober, bis die deutsche Armee die Aufständischen besiegt hatte. Dabei metzelten und massakerten die deutschen Soldaten sich durch die Stadt. Die bereits vor den Toren Warschaus stehende Sowjetarmee ließ dies gesehen.

Die Wunden, die ganz normale deutsche Soldaten auf verbrecherischste Art und Weise in die Stadt geschlagen haben, sind immer noch sichtbar. Von den Stadterweiterungen der Industrialisierung rund um die Altstadt ist fast nichts stehen geblieben. Wir schulden den Polen mindestens eine Hauptstadt; mit Zins und Zinseszins für 80 Jahre.

An der Ghettomauer
Vom jüdischen Ghetto sind nur noch sehr wenige Spuren geblieben. Nachdem die Bewohner*innen sich bereits 1943 gegen die Ermordung mit einem Aufstand werten, tötete die deutsche Armee erst fast alle und planierte dann das Gelände. Ein noch existierendes Mauerstück auf dem Gelände einer Schule ist heute eine Gedenkstätte.

Mezuzah-Museum
An diesem Mauerstück gibt es das kleine Atelier des Mezuzah-Museums. Eine Mezuzah ist ein kleiner religiöser Gegenstand in jüdischen Haushalten. Herzstück der Mezuzah ist ein Thora-Vers. Dieser Thora-Vers ist auf sehr dünnen Stahl graviert. Der stählerne Zettel wird aufgerollt und ein Gefäß gesteckt. Das Gefäß wird anschließend am Türrahmen angebracht. Zieht man aus der Wohnung aus, nimmt man die Mezuzah mit. Doch dazu hatten viele Jüd*innen angesichts der Verfolgung durch die Deutschen keine Gelegenheit mehr.

Spurensuche
Die Künstler*innen, die das Mezuzah-Museum betreiben, suchen gezielt ehemals von Jüd*innen bewohnte Straßenzüge auf. Dort suchen sie in alten Häusern nach erhaltenen Mezuzahs oder deren Spuren. Diese stellen sie in ihrem Museum aus. Außerdem produzieren sie neue Mezuzahs, um dieser jüdischen Tradition neues Leben und Präsenz in unserem heutigen Alltag zu geben.

Spur am Türrahmen
Mich hat das sehr beeindruckt. Denn in meiner ersten Wohnung in Berlin in einem recht schrottreifen Altbau gab es am Türrahmen eine Anomalie: Eine etwa 8cm hohe Aussparung. Ich nahm an, das sie von der Befestigung einer Türkette stamme. Doch dazu passte der leicht schräge Winkel nicht. Ich vermute jetzt: Es war eine Mezuzah.

Mordechaj und Mira in love
Vergessen ist auch der der jüdische Aufstand nicht. Diese Graffiti am Rondo ONZ zeigt die Gesichter von Mordechaj Anielewicz und Mira Fuchrer. Sie waren die Anführer*innen des Aufstandes. Und starben während des Aufstandes. Ich nahm wie selbstverständlich an, dass sie Mitte 40 bis Mitte 50 und Veteran*innen des Ersten Großen Krieges gewesen seien; in den alten Armeen des Zarenreiches oder unter den Habsburgern als Korporale oder Sergeant*innen gedient hätten. Um so überraschter war ich, als ich erfuhr, dass es sich bei den beiden um junge Menschen Anfang 20 handelt, die nie in ihrem Leben Bekanntschaft mit einer militärischen Ausbildung gemacht haben.

Kneipe im Kulturpalast
Am Abend startet das Seminarprogramm mit einem Abendessen im Hotel und mit einem Kneipenbesuch. Die Kneipe befindet sich im Palast der Kultur und Wissenschaft. Das ist ein ikonisches Hochhaus aus der Stalin-Zeit im Zentrum Warschaus. Smalltalk war kein Problem, ich hatte ja viel erlebt und gesehen an meinen ersten Tag in Warschau!

Partner finden

Den zweiten Tag verbrachten wir zunächst in einem schicken Seminarraum des sehr schicken Hotels. Wir lernten uns gegenseitig und unsere Organisationen kennen: Ein wichtiger Schritt für das Bilden von Partnerschaften. Darüber hinaus sensibilisierten die belarussischen Teilnehmenden für die Probleme, die sich jungen Belarussinnen beim Wahrnehmen von Erasmus+ Projekten stellen. Projekte mit Belarus sind in Erasmus+ entgegen meiner Annahme immer noch möglich. Allerdings ist das Finden von Partner*innen schwer. Die beteiligten Organisationen riskieren, vom belarussischen Regime als „extremistisch“ und „ausländischer Agent“ eingestuft zu werden. Dieses Risiko möchten aufgrund der Brutalität der Repression des Regimes verständlicherweise nur sehr sehr wenige Menschen tragen.

Belarus Youth Hub
Am Nachmittag stand unser erster Study-Visit in Warschau auf dem Programm. Wir besuchten den „Belarus Youth Hub“. Der Belarus Youth Hub ist ein Verein. Dem Verein steht ein großes Reihenhaus wenige Metro-Stationen vom Stadtzentrum entfernt zur Verfügung. Dort gibt es Veranstaltungsorte, Co-Working-Space, Werkstätten und Ateliers. Alles zur freien Verfügung für jungen Menschen nicht nur aus Belarus, die sich engagieren wollen. Im Gespräch wurde deutlich, wie sehr das nicht vorhandene Gesundheitsmanagement während der Corona-Pandemie des belarussischen Regimes 2020 zur Abwahl Lukaschenkos führte (hier gibt es mehr Infos zum Belarus Youth Hub in Warschau).

Adu.place
Ein weiterer Besuch führte zu Adu.place. Das ist eine NGO, die versucht, über das Internet Studierende in Belarus darüber zu informieren, wie sie in der EU studieren, Praktika machen oder die Möglichkeiten von Erasmus+ wahrnehmen können. Doch das ist riskant. Denn das Regime betrachtet den Kontakt mit Europa als gefährlich. Deshalb verunglimpft das Regime diese Informationen als „extremistisches Material.“

Visa?
Das belarussische Regime lässt seine unzufriedenen Bürger*innen übrigens gerne ausreisen. Das lässt Druck aus dem Kessel. Doch die Visa-Politik der EU-Staaten gegenüber am Westen interessierten Studierenden aus Belarus wird immer restriktiver. Das ist eine Schande, das sollten wir ändern: Wer kein Bock mehr auf Diktatur hat, sollte in der EU selbstverständlich willkommen sein!

Lustige Lautmalerei
Ich habe hier auch ein neues Wort gelernt. Es lautet „Gongo“. Eine GONGO ist eine Goverment-Non-Goverment-Organisation. Das belarussische Regime macht NGOs platt, die ein Fenster nach Europa öffnen. Die Leerstelle im öffentlichen Leben wird durch regimetreue Hofschranzen-Vereine gefüllt. Unterhaltsam finde ich die Wortmalerei des Wortes GONGO. Eine NGO hat Werte, die recht fest stehen und für die die NGO sich einsetzt. Eine GONGO macht hingegen jeden Schwenk des Regimes mit und gon-gon-gon-gon-gont munter durchs diskursive Feld.

Kartoffelpuffer mit Pilzen
Danach gings ins Restauracja Królewska. Das ist ein belarussisches Restaurant mit belarussischen Spezialitäten. Sehr gut! Ich empfehle die Kartoffelpuffer mit Pilzen.

Auf nach Hajnowka
Den dritten Tag verbrachten wir im Zug. Wir sind auf dem Weg von der polnischen Hauptstadt Warschau nach Hajnowka. Das ist eine Stadt ganz im Osten von Polen an der Grenzen zu Belarus. Sie hat etwa 25000 Einwohner*innen. Der Berliner Bezirk Lichtenberg hat eine Städtepartnerschaft mit Hajnowka. Im Ersten Weltkrieg hat die deutsche Armee Einwohner versklavt und deportiert. Im zweiten Weltkrieg hat die deutsche Wehrmacht hat den Ort völlig zerstört (wir schulden Polen also nicht nur eine Hauptstadt…).

Geprägt vom Rus
Hajnowka ist seit Anbeginn der Zeit durch die Sprache und Kultur des alten Rus geprägt. Während die sowjetische Regierung in Belarus strikt eine Politik der Russifizierung durchsetze, konnte das kommunistische Polen mit seiner othodoxen belarussischen Minderheit recht gut leben. Deshalb ist Hajnowka heute ein Zentrum der belarussischen Kultur, wo sich auch viele aus Belarus Geflüchtete gerne ansiedeln. Für die polnische Regierung ist das ein Glücksfall. Man stelle sich vor, auf einmal würden haufenweise gut ausgebildete Steuerzahler*innen völlig freiwillig in die hinterletzten Winkel Brandenburgs ziehen wollen!

Partnerschaftsbildung im Abteil
Polnische Züge haben wie bei uns auch in der guten alten Zeit der Bundesbahn immer noch Abteile. Dank der Abteile kann man in Polen im Zug Gruppenarbeiten machen. In diesen Gruppenarbeiten wie auch in den Seminaren nach der Ankunft ging es um das Finden von konkreten Ideen für Kooperationen und Absprachen für erste Schritte, um diese in die Tat umzusetzen.

Białowieża-Urwald
Vierter Tag, wir kommen zum Highlight: Dem Białowieża-Urwald! Dieser Wald ist sehr alt, sehr groß und seit Jahrhunderten recht stark vor kommerzieller menschlicher Nutzung geschützt. Der Wald ist sehr beeindruckend: Obwohl wir nur am Rande unterwegs waren, standen da schon alle 30 Meter 400 Jahre Eichen. Und im Wald leben Bisons!

8000 Jahre alt
Der Wald ist etwa 8000 Jahre alt. Seit über 1000 Jahren ist der Wald das Jagdrevier der Großfürsten von Vilnius. Danach jagten die russischen Zaren begeistert im Wald. 1915 eroberte die deutsche Armee die Gegend. Bis zum Ende des Krieges versklavten Deutsche die Anwohnenden zu Zwangsarbeit. Die letzten überlebenden Deportierten kehrten erst 1923 zurück. Ein Mahnmal im Skansen-Museum gedenkt den Betroffenen. Die Deutschen ließen ein Sechstel des Wald-Bestandes abholzen und töteten aus Spaß beim Jagen alle etwa zu diesem Zeitpunkt noch lebenden ca. 700 europäischen Bisons. Kleinbahn-Fans können bis heute die immer noch sichtbaren deutschen Feldbahnen bewundern.

Jagdgebiet der Bonzen
Die polnische Republik der Zwischenkriegszeit etablierte eine Holzwirtschaft. Das Wappen von Hajnowka ziert bis heute ein Sägeblatt. 1941 schütze der Oberwaldmeister Hermann Göring den Wald wieder als sein privates Jagdrevier. Diese Nutzungsweise übernahmen nach dem Krieg die sowjetischen und polnischen kommunistischen Parteibonzen, die sich den Wald jetzt teilten. In der stalinistischen Zeit prägten auch Deportationen das Leben in der Gegend. Ein, wie ich finde, sehr liebevoll gestaltetes und gepflegtes Mahnmal erinnert an die Opfer dieser Politik.

Weltkulturerbe
Heute ist der Wald ein gemeinsames Weltkulturerbe der Länder Polen und Belarus. In den netten 90iger Jahre klappte die gemeinsame Verwaltung recht gut. Nach dem Aufstand gegen Wahlfälschungen 2010 mauerte sich Belarus ein und errichtete einen riesigen Zaun. 2023 zog Polen nach und errichtete ebenfalls einen Zaun. Die Regierung hofft, damit Migrant*innen fernzuhalten. Diese und viel Tiere sind zwischen beiden Zäunen gefangen.

Die Bisons
Die Bisons im Urwald waren 1918 alle tot. Durch Deutsche. Die polnische Regierung der Zwischenkriegszeit siedelte sie wieder an. Dafür wurden Bisons aus Zoos und Tierparks wieder ausgesiedelt. Heute gibt es wieder ca. 800 Bisons im Białowieża-Urwald. Sie laufen dort genauso frei rum wie bei uns Wildschweine, Wölfe oder Rehe. Und wir haben sogar einen Bullen gesehen!

Freilicht-Museum
Wir besuchten außerdem das Skansen-Freiluft-Museum. Seit 1984 retteten die Ehrenamtlichen dieses Museums etwa zwei Dutzend alte Häuser. Dort finden sich auch zwei Mühlen aus Holz.

Fazit
Was nehme ich aus der Partnerschafts-Bilde-Aktivität mit? Ich habe gelernt, dass die deutsche Armee auch im 1. Weltkrieg Zwangsarbeit und Deportationen in Polen eingesetzt hat. Ich habe gelernt, dass die konkrete Situation in Belarus noch krasser ist als ich dachte. Und ausgerechnet die EU könnte mit offeneren Grenzen die Situation verbessern, tut aber nichts!

Mit dem Belarus Youth Hub und dem Salto-Center für Osteuropa und Kaukasus habe ich erste Anlaufstellen für Projektideen gefunden. Ich habe die Scheu verloren, bei den Nationalagentur nach Unterstützung im Vorfeld einer Antragsstellung zu fragen. Auch habe ich den Mut gefasst, es ernsthaft mit einer Small Scale Partnership zu versuchen. Ich werde allen unsere Aktiven nahelegen, ebenfalls Fortbildungen zu besuchen. Und ich bringe eine Absprache für eine Internet-Veanstaltung zum Thema „Fluchterfahrungen in Osteuropa“ in Kooperation mit einer Organisation aus Lublin mit nach Haus. Und Club Mate ist in Warszawa definitiv schon erfunden:

Mehr Infos:

Die Salto-Plattform zum Finden von Fortbildungen:
https://www.salto-youth.net/

Die Jugend-Rada über Probleme von belarussischen Jugendorganisationen:
https://www.salto-youth.net/rc/eeca/eecapublications/eecamanual/eecamanualbelarus/belarus/